Matthias Slunitschek Anselm Grün Mönch und Mensch Vier Türme Verlag, 2024, 160 Seiten, Haqrdcover, 978-3-7365-0576-6 Über Kirche nicht und nicht über Politik – oder doch? Zu selten mischt sich Anselm Grün ein, sagen vor allem diejenigen, die auf einen synodalen Aufbruch hoffen. Aber stimmt das denn? Das könnte man meinen. Schließlich sagte Pater Anselm selbst von sich nicht nur einmal: „Ich sage meine Meinung, aber nicht im Buch.“ Zwei Themen werde er nicht behandeln: Kirchenstrukturen und Politik. Dieser Satz war lange Zeit richtig. Abgesehen von kürzeren Passagen gab es nie einen Rundumschlag. Immer wieder wehrte sich Pater Anselm dagegen, in den vielstimmigen Chor des Kirchenbashings oder auch der konstruktiven Debattenbücher einzustimmen: „Ich schreibe darüber, was mir wichtig ist – über Spiritualität, über eine Kirche, die eine Sprache für die Menschen findet. Ich schreibe zwar über kirchliche Themen wie Liturgie und geistliche Traditionen, aber nicht über Kirchenstrukturen. Ich bin kein Soziologe und es klingt nach Anklage und nach Besserwisserei.“ Man konnte wiederum meinen, dies änderte sich mit der Missbrauchsstudie der Erzdiözese München-Freising – sicher eine Zäsur nicht nur für viele Opfer sexualisierter Gewalt, für Gläubige und Beobachter, sondern auch für jeden Geistlichen. Als am 27. Januar 2022 Kardinal Marx vor die Kameras trat, sprach er aus, was längst auf der Hand lag: „Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltung und Strukturen entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden.“ Es ging damals wie heute um die Frage, wie man der Kirche und ihren Vertretern überhaupt noch vertrauen könne. In diesen Tagen setzte sich der inzwischen 77-jährige Anselm Grün an seinen Schreibtisch, um ein neues Buch zu schreiben. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für eine Revolte gewesen, wenigstens für ein religiöses Empört euch!, ein Appell an die jungen Christen nach Vorbild von Stéphane Hessel. Es wäre so einfach und der Buchabsatz sicher gewesen. Offensichtlich sagte Anselm Grün sich auch hier noch: „Das liegt mir nicht!“ Außerdem wäre der Wunsch, ein solches Thesenpapier zu formulieren, nicht aus ihm selbst gekommen und hätte nur eine politische Leitkultur bedient. Das ist einfach nicht seine Sache. Er schrieb stattdessen den Essay Warum ich trotzdem in der Kirche bleibe. Das Buch ist vor allem in einer Hinsicht außergewöhnlich für den vielschreibenden Mönch: Es ist die prägnanteste und kürzeste Schrift, die er je veröffentlicht hat. Was aber auch bei diesem politischen Thema bleibt – und das ist nun wirklich eine Kunst: kein Anprangern, in keine Richtung. Eigentlich lag darin der Sprengstoff. Für jeden klar ersichtlich an der Oberfläche des Buchs: Ein Mönch schreibt eine Streitschrift für die Kirche, während sich einer der größten Skandale in seinem Umfeld schwarz auf weiß offenbart hat. Wer das Buch nicht gelesen hatte und den Autor nicht kannte, musste meinen, hier schreibe ein Ewig-gestriger: einer, der kein Buch über die Beschämung und die Schuld dieser Kirche schreibt, sondern einer der diese schuldige Kirche retten möchte – vor ihrer eigenen Ausweglosigkeit und nicht zuletzt vor Massenaustritten. Doch mit der ersten Seite wird klar: Es ist ein Buch, das nicht die Kirche verteidigt, sondern zeigt, wie Kirche sich wandeln kann, um wieder für die Menschen da zu sein. Wie gewohnt verfasst in einem ganz persönlichen Ton, mehr Ansicht unter vielen als kategorischer Imperativ. Für Pater Anselm ist klar, dass jetzt die Kirche zweierlei tun muss: Die Opfer würdigen, vor allem indem die Täter bestraft werden, sich gleichzeitig aber bewegen und zeigen, dass sie ihre Rolle in der Gesellschaft nicht verloren hat. „Wie kann man der Kirche und ihren Vertretern noch vertrauen?“ Auf die Frage von Kardinal Marx gibt Pater Anselm deutliche Antwort. Er zeigt die Dimension des Machtmissbrauchs auf, das Problem des Klerikalismus, er bringt die Verdrängung von Sexualität, den Zölibat, insbesondere die Dringlichkeit der Frauenfrage ins Spiel. Er sieht die konkrete Gefahr, dass Frauen aus der Kirche austreten, weil sie sich nicht gleichbehandelt fühlen. Er sagt deutlich, dass Frauen ihre Gaben in die Kirche einbringen müssen und es kein theologisches Argument dagegen gibt. Er mahnt sogar an, dass Kirche im Hier und Jetzt ankommen muss. Kirche brauche nicht nur einen sorgsamen Blick auf die verpflichtenden Traditionen, sie müsse auch Wandel in der Gesellschaft wahrnehmen. Weitermachen wie vor 50 Jahren, das kommt für Pater Anselm nicht infrage. Aber Frauen in Weiheämtern werde es nicht in unmittelbarer Zukunft geben. Er wird im Umfeld seines Essays „Warum ich in der Kirche bleibe“ deutlich und aktuell wie nie, trotzdem bleibt Anselm Grün ein Autor der spirituellen Themen, kein Tagespolitiker, schon gar kein Soziologe, der die Strukturen betrachtet, ohne den Einzelnen zu sehen. Es geht ihm vor allem um eine spirituelle Erneuerung der Kirche: „Sie darf den Gläubigen nicht durch Moralisieren ein schlechtes Gewissen einimpfen.“ Die Wortwahl ist mit Bedacht gewählt: etwas geimpft bekommen, das geschieht passiv, ist nicht reflektiert, ja körperlich und man wird immun, offensichtlich auch gegen Gefühle, die man mit gutem Gewissen zulassen sollte. Moral einimpfen – und dann womöglich noch die falsche, eine, die von den behandelnden Moralaposteln selbst nicht gelebt wird! Wer würde da nicht sagen: Weg der mit der Approbation, Berufsverbot! Wer kann da noch an etwas Heiliges glauben? Was ist heilig angesichts der Monstrosität dieser Verbrechen, die in der Kirche begangen wurden? Aber diesen Ton schlägt Anselm Grün nicht an. Er schreibt wie immer unaufgeregt, nüchtern und zuletzt ganz persönlich. „Meine persönliche Antwort auf die Krise der Kirche“ überschreibt er das letzte und umfangreichste Kapitel. Es ist eine Art Eingeständnis, das ihn fast sein gesamtes Leben als Schriftsteller begleitet: Viele Themen und alle existenziellen Fragen lassen sich nur mit der eigenen, persönlichen und damit auch unvollkommenen, bisweilen sogar zweifelnden, jedenfalls nicht-wissenden Stimme beantworten. Es sind Pater Anselms Antworten auf die Krisen. Er nennt sie nicht die „richtigen Antworten“ oder die „dringenden Antworten“, wie es ein Politiker gemacht hätte. Ihm geht es – wie im Buch selbst und womöglich schon sein Leben lang – um etwas Grundsätzliches: um Ehrlichkeit.